Studie zeigt: Mithilfe des „Hörbuch-Lesens“ können leseschwache Schüler Defizite schnell ausgleichen.
Manche Schüler lernen es bis zum Abschluss ihrer Schullaufbahn nicht, flüssig zu lesen und den Inhalt geschriebener Texte zu verstehen. Eine neue Methode erzielt gerade in dieser Gruppe erstaunliche Erfolge: In Unterrichtsreihen an Haupt- und Gesamtschulen verbesserten die Schüler ihre Lesekompetenz binnen neun Wochen um ein bis zwei Schuljahre. Das viel versprechende Trainingsprogramm wurde an der Leuphana Universität Lüneburg entwickelt; es könnte den Leseunterricht schwacher Schüler revolutionieren.
Der Germanist an der Leuphana Universität Lüneburg ist Vater des so genannten „Lüneburger Modells“. Im Zentrum dieses Leseförderungs-Programms steht ein für Deutschland völlig neuer Ansatz: Durch das Mitlesen von Hörbüchern sollen die Schüler Leseflüssigkeit und -tempo deutlich steigern. Denn diese beiden Faktoren gelten als eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis geschriebener Texte und damit für die Lesekompetenz als solche.
„Wer bei jedem Wort rätseln muss, was er da gerade liest, hat keine freien Kapazitäten mehr, um den Inhalt zu verstehen“, erläutert Gailberger. „Dazu kommt, dass langsame Leser sich mitunter gar nicht mehr an den Anfang des Satzes erinnern können, wenn sie ihn zu Ende gelesen haben.“ Er langt in seine Tasche und zieht einen spiegelbildlich gedruckten Artikel hervor. „Versuchen Sie einmal, zu verstehen, worum es hierin geht“, sagt er. „Es wird Ihnen schwer fallen. Ganz ähnlich geht es schwachen Lesern bei ganz normal gedruckten Texten.“
Das Hörbuch-Lesen schafft hier Abhilfe – und zwar auf spektakuläre Weise, wie Gailberger in seiner jüngst beendeten Dissertation belegt. Er hat seine Erfahrungen nun zu einem Buch zusammengefasst (Steffen Gailberger: Lesen durch Hören: Leseförderung in der Sek. I mit Hörbüchern und neuen Lesestrategien). Darin stellt er Resultate aus fünf verschiedenen Gesamtschulklassen der Stufen 8 und 9 vor, deren Lesekompetenz vor dem Trainingsprogramm im Schnitt um etwa zwei Schuljahre zurück hing. Und diese Ergebnisse sind deutlich: Bei vier zwanzigminütigen Lese-Einheiten pro Woche steigerten die Schüler ihr Lesetempo binnen sechs Wochen im Schnitt um 20 Prozent – das entspricht eben jenen zwei Schuljahren, die es aufzuholen galt. Eine Klasse verbesserte sich gar um drei Schuljahre.
Lesen mit Stiften verbessert das Textverständnis
Doch verstehen die Schüler auch besser, worum es bei dem Gelesenen überhaupt geht? „Gerade bei komplexen Texten sind dazu noch weitere Fertigkeiten erforderlich“, sagt der Germanist. „Daher schließt sich an den Hörbücher-Teil ein zweiter wichtiger Baustein an, den wir ‚Lesen mit Stiften‘ getauft haben.“ In diesem dreiwöchigen Unterrichtsblock lernen die Schüler etwa, wie sich Schlüsselwörter quasi von selber zu erkennen geben, um so den roten Faden einer Geschichte besser nachvollziehen zu können. „Was das Textverständnis anbelangt, erreichen wir mit unserer Methode nach drei Wochen Training im Schnitt einen Lernfortschritt von einem Schuljahr“, erklärt Gailberger. „Grundvoraussetzung ist aber auch hier eine gute Leseflüssigkeit, wie wir sie mit Hilfe der Hörbücher erzielen.“
Der ehemalige Hauptschullehrer hat in seiner Examenszeit selbst damit begonnen, Hörbücher zu lesen. „Wenn Sie sich binnen kürzester Zeit vier Werke von Fontane zu Gemüte führen müssen, kann Ihnen eine gute CD dabei schon helfen“, sagt er. „Schon damals entstand bei mir der Gedanke, diese Methode auch für den Deutschunterricht zu nutzen.“ Ganz neu ist diese Idee übrigens nicht: In den USA werden Hörbücher schon seit den 80er Jahren im Lese-Unterricht eingesetzt. In Deutschland habe man das aber nie richtig zur Kenntnis genommen.
Bei seinen ersten Schulbesuchen sei er zunächst auf viel Skepsis gestoßen. „Die Lehrer sagten mir: ‚Das hört sich ja ganz toll an, aber Sie kennen meine Schüler nicht’“, erinnert er sich. Lesen sei eben bei vielen Schülern aus bildungsfernen Schichten nicht gerade angesagt. Dennoch habe es bislang immer geklappt, die Klassen zu motivieren. Gailberger hat das sogar schriftlich: In seiner Dissertation hat er erhoben, wie viel Spaß die Acht- und Neunklässler an der Hörbuch-Methode fanden. „Die Lesefreude lag auf Gymnasial-Niveau“, sagt er. „Selbst diejenigen, die anfangs überhaupt nicht mitmachen wollten, fanden es irgendwann toll, ein ganzes Buch zu lesen. Es ist fürs Selbstbewusstsein immens wichtig, sich als Teil der lesenden Welt fühlen zu können.“
Welche unerwarteten Nebenwirkungen die neue Begeisterung fürs Lesen haben kann, zeigt eine Anekdote aus einer der Hauptschulen, die er besuchte: Nach Abschluss der Unterrichtsreihe sei dort die Zahl der Diebstähle in der Schülerbibliothek deutlich gestiegen.
Weietere Informationen finden Sie auf der website der Universität Lüneburg.